Extended Mind und Smartphone Banking

Im Juni 2014 entschied das US-Amerikanische Supreme Court, dass die Polizei einen richterlichen Beschluss benötigt, um das Smartphone eines Verdächtigen zu infiltrieren. Daran soll uns hier weniger der Umstand interessieren als vielmehr die Begründung. Die Richter stellten fest, dass «modern cell phones […] are now such a pervasive and insistent part of daily life that the proverbial visitor from Mars might conclude they were an important feature of human anatomy.» (https://www.law.cornell.edu/supremecourt/text/13-132). Aufgrund dessen sei der Einbruch in das Smartphone eine so tiefgreifende Verletzung der menschlichen Privatsphäre und nur mit richterlichem Beschluss zu rechtfertigen. Die Implikation dieser Metapher, nämlich der des Smartphones als wichtigem Teil unserer Anatomie, wollen wir heute nachgehen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Tragweite von Smartphone Banking ziehen.

Das Smartphone ständig griffbereit in der Hosentasche – jeder kennt das. Die ganze digitale Welt in einem handlichen Gerät. Aus Wissen wird das Wissen-wo-es-steht. Stetig fliessen Daten vom Digitalen ins Analoge und gleichzeitig vom Analogen ins Digitale (unsere User-Daten). Ein ständiger Strom statt – wie früher – feste Grenzen zwischen Selbst und Umwelt.

Welche Auswirkungen hat diese sehr junge Entwicklung? Und zwar nicht nur auf die Gesundheit, sondern auf unsere gesamte Persönlichkeit? Einige Studien legen nahe, Smartphones schwächen die Konzentrationsfähigkeit und machen uns geistig faul – schliesslich müssen wir dank Siri & Co. immer seltener das Gehirn bemühen, um uns an Termine zu erinnern oder in einer neuen Stadt zurecht zu finden (Cherry, 2018).

Möglicherweise sind die Effekte aber noch viel tiefgehender. Berühren und streiche(l)n waren in der Evolution stets Mittel zur Herstellung von Intimität. Tatsächlich erhöhen diese haptischen Elemente Vertrauen und Risikofreudigkeit (Melumad und Pham, 2017). Nicht erst seitdem Sprachassistenten Einzug ins Smartphone erhalten haben, lagern wir immer mehr kognitive Aufgaben in das Gerät in der Hosentasche aus (Chemero und Käufer, 2018). 

Philosophen wenden daher seit einiger Zeit die sog. Extended-Mind-Hypothese (nach Clark und Chalmers, 1998) auf die Forschung über technologische Geräte an (z.B. Record und Miller, im Erscheinen). Schon viel früher, nämlich vor 91 Jahren, schrieb der deutsche Philosoph Martin Heidegger über die Zuhandenheit von Werkzeugen des täglichen unreflektierten Gebrauchs. Ein Hammer werde „zunächst und zumeist“ nicht als Gegenstand benutzt – also als etwas, dem wir gegenüber stehen – sondern ist uns viel näher und unmittelbarer gegeben. Erst wenn der Hammer nicht funktioniert, interessieren wir uns für ihn als Ding und definieren Eigenschaften (Grösse, Gewicht, etc.). Je komplexer das „Zeug“, desto weniger kennen wir die Eigenschaften und Mechanismen, sind aber gleichwohl meist zufrieden, sofern es uns im Alltag verlässliche Dienste leistet. Der Hammer als Zeug ist zuhanden, indem er uns leicht zur Hand geht, der (nicht funktionierende) Hammer als Ding ist vorhanden, liegt uns also gleichsam gegenüber und wird betrachtet und analysiert (Lynch, 2016).

Und damit wären wir beim Smartphone. Erst das Smartphone ist wirklich „handy“, also  intuitiv zu bedienen und funktioniert in aller Regel völlig anstandslos. Die iPhone-Revolution hat dazu geführt, dass das Taschengerät immer weniger Ding und immer mehr Zeug wurde. Aufgrund der haptischen Bedienung und Handlichkeit gehen wir mit dem Smartphone natürlicher und intuitiver um als mit PC oder Laptop. So konnte es immer mehr die Stellung als zentrale Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Welt einnehmen. Und je haptischer, intuitiver und unauffälliger die Bedienung ist, desto weniger nehmen wir diese Schnittstelle selbst noch wahr und desto besser können wir die zahlreichen Anwendungen nutzen, mit denen es uns verbindet. 

Das Smartphone ist also nicht irgendein technologisches Gadget. Die Einflüsse auf unsere Persönlichkeit und Subjektivität prägen auch die Erwartungshaltung, die wir an Smartphone Banking Lösungen haben – so zumindest die hier zur Diskussion gestellte These. Daraus folgt zunächst, dass Banken ihre App nicht nur als ein Kanal ähnlich dem e-Banking verstehen sollten, sondern als viel intimeren Kontaktpunkt zum Kunden. NeoBanken haben das begriffen und bieten oft nur noch die App-Oberfläche an.

Sie sind es auch, die den Datenschatz, den der digitale Austausch bietet, intensiv nutzen. Ausserdem setzen sie stark auf PSD2 und ähnliche Initiativen und können so den oben erwähnten stetigen, unauffälligen und selbstverständlichen Datenstrom in beide Richtungen gewährleisten. Womöglich verändert die Fluidität des Bezugs zum Digitalen auch unser Verhältnis zum Digital-Geld selbst. Revolut beispielsweise zeigt nicht nur den Kontostand an, sondern den Geldfluss – absteigend während des Monats, ansteigend am 25ten. Der exakte Betrag wird sekundär. An die Stelle der bewussten Kontrolle treten selbst definierbare Budget-Regeln. Die App warnt uns, wenn wir das gesetzte Limit erreichen. Vielleicht werden wir so durch Mobile Payments zahlungsfreudiger im Alltag?

In jedem Fall werden intelligente Banken die Befunde, dass haptische Bedienung Risikofreudigkeit und Vertrauen erhöhen, auszunützen wissen. Möglichst wenig sollte auf Tastatureingaben, möglichst viel auf Wischen, Streichen und Stupsen zurückgegriffen werden. Biometrische Authentifizierungsverfahren sind der Passworteingabe vorzuziehen. All das kann dabei helfen, eine subtile Nähe zu einer User Group aufzubauen, die der Kundenberater recht selten zu Gesicht bekommt.

Die App der Bank muss genauso einfach zu bedienen sein und fehlerfrei funktionieren wie wir das von anderen Apps gewöhnt sind. Und natürlich muss alles sofort verfügbar sein – daher die Erwartungen an Instant Payments. Dies sind hohe technische Anforderungen. Banken werden sie jedoch umsetzen müssen, wollen sie den modernen Smartphone-Menschen erreichen. Durch eine hohe Nutzerfreundlichkeit ihrer App kann sich die Bank als zentrale Schnittstelle zu den finanziellen Angelegenheiten des Kunden etablieren. Hier gibt es noch viele Möglichkeiten, sich zu differenzieren: Man denke nur an vereinfachte Einrichtung der Sprachsteuerung, an Chat-Bots, die ihre Sprachwahl an das Kundenprofil anpassen, an Schnittstellen zu Depot und Vermögensverwaltung sowie an all das, was unter Gamification rangiert (siehe unser früherer Blog). Aber auch für das Unternehmenskundengeschäft lassen sich aus diesen Überlegungen Rückschlüsse ableiten. Schliesslich benutzen Unternehmen heute Apps für ihren Zahlungsverkehr. Die verteilte elektronische Unterschrift (VEU) ist hier eine jüngere Entwicklung.

Mark Weiser, eine Koryphäe des frühen Silicon Valley, schrieb in seinem prägenden Papier The Computer for the 21st century (Weiser, 1991): «The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are indistinguishable from it.» Wenn wir diesem Gedanken folgen, dann müssen wir annehmen, dass Sprachassistenten und Virtual Reality Brillen nur konsequente Entwicklungsschritte sind. Und dass es vielleicht nicht mehr lange dauert, bis Smartphones durch Chips ersetzt werden, die wir unter der Haut eines Fingers tragen und mit tippen auf diesen ein- und ausschalten. Das klingt aktuell noch nach Science Fiction. Aber das hätte unser heutiger Umgang mit Smartphones vor 10 Jahren auch. Erfolgreiche Banken werden all diesen Entwicklungen nicht ablehnend oder herablassend gegenüber stehen, sondern die Chancen – etwa den engen personalisierten Kundenkontakt bei gleichzeitig niedrigem Personaleinsatz – zu nutzen wissen. Und natürlich dürfen sie bei alldem nicht die Schlussfolgerungen vergessen, die der Supreme Court zieht: die Daten auf unserem Smartphone müssen so sicher sein wie unser leibliches Wohl.


Dieser Beitrag wurde von Sebastian Strub gepostet.

#Smartphone #MobileBanking








Quellen:

Chemero, Anthony und Käufer, Stephan (2018): Pragmatism, Phenomenology, and Extended Cognition, in: Pragmatism and Embodies Cognitive Science, S. 57-72

Cherry, Kendra (2018): The Effects of Smartphones on the Brain

Clark, Andy und Chalmers, David J. (1998): The Extended Mind, Analysis 58 (1), S. 7-19

Lynch, Michael Patrick (2016): Leave my iPhone alone: why our smartphones are extensions of ourselves, The Guardian 19.02.2016

Melumad, Shiri und Pham, Michel (2017): Understanding the Psychology of Smartphone Usage: the Adult Pacifier Hypothesis, in NA - Advances in Consumer Research Volume 45, S. 25-30

Record, Isaac und Miller, Boaz (im Erscheinen) Taking iPhone Seriously: Epistemic Technologies and the Extended Mind, in: Extended Epistemology

Weiser, Mark (1991): The Computer for the 21st century, Scientific American Ubicomp Paper

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